Lehmann, Erdmann, Liebermann
Geschichten aus einer abgewählten Welt
Leseprobe    


Samogon


Das Wort besteht aus zwei Teilen, Sam, gleichbedeutend mit selbst, und Ogon, das Feuer. Selbstfeuer. Aber in dieser Übertragung ergibt es keinen Sinn. Man muss nach einer anderen Deutung suchen. Da wäre die Eigenschaft des Feuers, heiß zu sein oder brennend, selbst brennend etwa oder selbst gebrannt. – Selbstgebrannter also.

Samogon ist selbst hergestellter Schnaps, meist mit einem Gehalt von siebzig Teilen Alkohol auf hundert Teile Flüssigkeit. Herstellung und Handel damit stehen unter Strafe. Auch der Käufer macht sich strafbar. Das dürfte heute nicht anders sein als in den Jahren da die Ukraine noch zur UdSSR gehörte und DDR-Deutsche, Jugendliche zumeist, dort einen Teil der Erdgastrasse bauten, die das begehrte Produkt aus den reichhaltigen Lagerstätten bei Orenburg am Ural an die Westgrenze der UdSSR und von dort weiter bis in die Bundesrepublik transportieren sollte.

Jeder Ukrainer kannte die recht empfindlichen Strafen, die beim Verstoß gegen die den Samogon betreffenden Gesetze drohten. Jeder Ukrainer wusste aber auch, wo er einen Liter oder zwei auf die Schnelle zu kaufen bekam, und sollte es nachts halb zwei sein.

Das war in den anderen Teilen des inzwischen auseinander gefallenen Staatenkonstrukts nicht anders. Schließlich war dieses, bis auf wenige Ausnahmen, nicht erst unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei zustande gekommen, sondern ging auf ein schon viel älteres Konstrukt zurück, dem Herrschaftsbereich des Zaren nämlich. Und wenn sich auch diese Herrschaften nicht halten konnten, die Herrschaft des Samogon scheint alle Zeiten überdauern zu können. Weshalb mir auch alle Versuche, die Geschichte und den Einfluss Russlands auf den östlichen Raum der eurasischen Kontinentalplatte zurückdrehen zu wollen, als zum Scheitern verurteilt erscheinen. Samogon ist vom Ursprung her ein russisches Wort und wird auch in der Ukraine zumeist im Diminutiv gebraucht, der Verkleinerungsform also, ein Zärtlichkeitsverhältnis ausdrückend: "Samogonka".

Das Wort kannten die Trassenbauer aus der DDR meist schon, bevor sie in die Ukraine reisten. Es war ihnen auf den Einweisungslehrgängen begegnet, ausgesprochen von beinahe jedem der Lektoren und mit warnendem Aspekt. Das Strafmaß benannten sie, das die Gesetze der Ukraine für Verstöße gegen das Verbot vorsahen, drohten mit einer sofortigen Zurückführung in die Heimat, wegen einer Schädigung des Ansehens der Freundschaftsbande, und erwähnten die Möglichkeit, nach dem Genuss das Augenlicht zu verlieren, wenn bei der Herstellung ungeeignete Grundstoffe verwendet worden waren.

In der Ukraine angekommen, verging dann für die meisten kaum eine Woche, bis sie dem hochprozentigen Wässerchen begegneten. Wobei die, die am eindringlichsten davor gewarnt hatten, in der Regel die Ersten waren, die die Angst, mit Blindheit geschlagen zu werden, aus den Augen verloren.

Sei es, dass sie aufgefordert worden waren, Platz zu nehmen, Sonntags, beim Spaziergang durch den örtlichen Kulturpark; Leute sitzen im Gras, rings um eine ausgebreitete Zeitung, auf der Brot liegt und Trockenfisch, eine Flasche geht um, ein Glas dazu, groß genug, um ein Drittel der Flasche aufnehmen zu können; sei es, dass man zum Freundschaftstreffen mit einer Jugendbrigade des Komsomol delegiert worden war, Limonadeflaschen werden herumgereicht, offizielle über dem Tisch, inoffizielle darunter; sei es, dass einer daherkam in der Nähe des Wohnlagers und ein Tauschangebot unterbreitete: Eine Flasche Samogonka gegen eine Schachtel Zigarillos Marke Don Pedro aus der Lagerverkaufsstelle. Die Versuchung lauerte überall und es fiel schwer, nein zu sagen, zumal man das ja eigentlich auch gar nicht wollte. Denn wie es so ist, mit Verboten, je mehr davor gewarnt wird, sie zu brechen, umso größer wird die Lust, es doch zu tun. Und wovon ließ sich denn besser erzählen, wenn man wieder zu Hause war, als von solchen Übertretungen?

Mir selbst begegnete das Wässerchen an einem heißen Sonntagnachmittag im Juni.

 Schon länger hatte mich das Wäldchen interessiert, das hinter dem Ende des Kleefeldes zu ahnen war, an dessen Anfang wir unser Wohnlager aufgebaut hatten, und ich hatte Willi, den Baggerfahrer, der eine Woche zuvor über eine von mir nicht sachgemäß beiseite gelegte Schaufel gestolpert war, zu einem Spaziergang überredet, - gewissermaßen als Therapie gegen seine gebrochene Rippe. - Und so waren wir losgegangen, quer über das Feld und hatten nach einer Stunde Marsch feststellen müssen, dass das Wäldchen nur ein schmaler Windschutzstreifen aus Pappeln war und wir bis zu den Häusern am Stadtrand noch einmal eine Stunde zu laufen haben würden. Weshalb ich Willi zum Abbruch unserer Unternehmung überreden wollte. Der aber erklärte: "Ich bin ein harter Hund." und so stapften wir weiter mit zunehmend trocken werdenden Hälsen durch den vom fortgeschrittenen Sommer schon braun gewordenen Klee und ärgerten uns, dass wir nicht daran gedacht hatten, uns etwas zu Trinken mitzunehmen.

Die Stadt Tscherkassy, in deren Nähe sich unser Wohnlager befand, bestand hauptsächlich aus Siedlungshäusern, quadratisch, eingeschossig, aus Lehm oder Ziegeln erbaut, mit Blech oder Wellasbest gedeckt. Sie war zwanzig Jahre zuvor nicht mehr als eine unbedeutende Kleinstadt gewesen, alt zwar, älter als Kiew, wie man uns erzählt hatte, aber unbedeutend; nur zweiunddreißigtausend Einwohner. Dann war bei Krementschug der Dnepr abgeriegelt worden, ein Stausee entstand, so groß wie Sachsen etwa, und alle Leute, die vorher dort gewohnt hatten, wo jetzt das Wasser stand, waren in Tscherkassy neu angesiedelt worden. Man hatte ihnen Parzellen gegeben und Baumaterial, und sie hatten gebaut, was möglich war und was der Tradition entsprach: quadratische Häuschen, fünf mal fünf Meter, mit Obstbäumen ringsum und Zäunen. Alles nicht besonders solid, weil nicht auf Dauer geplant. Es gab ein Projekt für die Stadt mit Hochhäusern, Einkaufszentren, Boulevardstraßen, Kulturhäusern, Theatern und Erholungsgebieten. Einiges davon war schon zu sehen, der Tierpark zum Beispiel befand sich direkt neben den Baracken unseres Lagers, anderes war im Bau. Das Bild aber bestimmten die Siedlungshäuschen mit den Obstbäumen im Gärtchen hinter grünen, gelben oder hellblauen Zäunchen, mit nicht selten einem Bänkchen davor.

Auf ein solches Bänkchen steuerte Willi zu, als wir das Kleefeld endlich hinter uns gelassen hatten, streckte die Beine von sich und erklärte: „So ein harter Hund, wie ich gedacht habe, bin ich wohl doch nicht. Mir ist, als hätte ich mir auch noch beide Füße gebrochen.“

Auch ich setzte mich, denn es war ein wirklich sehr heißer Nachmittag, und die Felder der Kolchosen in der Ukraine dehnen sich in der Regel noch etwas weiter, als die Felder der LPGn in der DDR.

Vor uns im Sand der Straße, die sich zwischen den Häuschen mit Gärtchen dahin zog, scharrten weiße Hühner, die man, wohl, um sie ihren Besitzern eindeutiger zuordnen zu können, mit roter, gelber oder blauer Farbe bespritzt hatte. Möglicherweise, dem Anstrich des jeweiligen Zäunchens entsprechend.

Ich fand das festhaltenswert und fotografierte sie.

Dann kam aus einem Seitenweg eine Gruppe Leute, etwa so angezogen, wie man bei uns zu Hause zu einer Karnevalsveranstaltung gehen würde: Bänder im Haar, altmodische Hüte auf den Köpfen, die Rocksäume mit Kronenverschlüsse von Bierflaschen wie mit Silbermünzen verziert. Und auf einem zweirädrigen Handkarren Blumen und Körbe mit Flaschen, Gläsern, Brot, Gurke, Wurst.

Auch das hielt ich für festhaltenswert.

„Ah, ein Korrespondent!“, riefen daraufhin die Leute und gruppierten sich, lachend und Grimassen schneidend, um den Handkarren.

Danach redeten sie auf mich ein. Wahrscheinlich wollten sie wissen, wie sie zu Abzügen von den Fotos kommen könnten. Und ich rettete mich, indem ich Deutsch sprach.

„Ah, ein ausländischer Korrespondent!“, riefen sie nun und gruppierten sich mit Willi in der Mitte.

Dann wurden zwei Gläser mit dem Inhalt einer Flasche gespült und dann aus der gleichen Flasche bis zum Rand gefüllt.

„Trinken Sie! Es ist Hochzeit, die Zigeuner kommen.“

Luft holen, wusste ich, Luft anhalten und erst nach dem Trinken ausatmen. Trotzdem traten mir die Tränen in die Augen.

„Malodjetz!“, riefen sie nun, Prachtkerl! Und klopften mir auf die Schulter.

Willi stand noch immer mit dem vollen Glas in der Hand: „Nee, ich nicht.“

„Nu, dawai! Pitje! Pitje!“

„Luft anhalten“, sagte ich, „trinken und dann erst ausatmen.“

Gierig griff er nach dem Brot, das ihm hingehalten wurde, als er mit herausquellenden Augen um sich blickte.

Auch er war ein Prachtkerl.

Dann wurden wir einfach mitgenommen. Zu einer Hochzeit, nicht weit, in einer der Seitenstraßen. Kinder liefen voraus, um uns anzukündigen. Und die Leute erklärten uns inzwischen, dass man in der Ukraine eine Hochzeit drei Tage lang feiere, mindestens drei Tage. Am zweiten Tag kämen die Zigeuner. Sie wären die Zigeuner.

Die Verständigung funktionierte erstaunlich gut. Es war als hätte das Glas Samogon in mir einen Wörterquell zum sprudeln gebracht. Vokabeln hatte ich plötzlich zur Verfügung, die irgendwann in der Grundschule, fünfundzwanzig Jahre zurück, mit Hilfe von Verszeilen in mich hineingepflanzt worden waren. Und auch sonst fand ich das alles als völlig selbstverständlich.

Und dann folgte eine Szene, die ich jedem Filmautor als zu dick aufgetragen übel genommen hätte.

Vor dem Gartentor des Hochzeitshauses empfing uns die Mutter des Bräutigams. Eine kleine Frau, fünfzig Jahre etwa, blondiert, mit einer Schürze über Rock und Pulli.

Woher wir kämen, fragte sie, Und ich antwortete, dass wir „Utschasniki Gasoprowoda“ seien, Trassenbauer aus der DDR.

Worauf sie den Ärmel ihres Pullis vom linken Unterarm nach oben streifte.

Es war das erste Mal, dass ich eine KZ-Nummer nicht im Film oder auf Fotos, sondern an einem lebendigen Arm sah, sechsstellig, blau auf rosafarbener Haut. Und vielleicht hätte ich, wäre das Glas Samogon nicht gewesen, nur dastehen können, stumm und ratlos. Ich gehöre zu der Generation, die vom Beginn des bewussten Lebens an mit Schuldbewusstsein beladen wurde. Wir wuchsen unter der Erschütterung auf, die sich ausbreitete, als sich all das, was man vorher als Gerücht, Verleumdung, Feindpropaganda abtun konnte oder als bange Ahnung weit von sich schob, als unumstößliche, grausame Wahrheit erwies. Unsere erste politische Erfahrung war die, zu einem Volk zu gehören, das begeistert einer Ideologie des Hasses und des Mordens gefolgt war. Wir kennen nicht dieses: "Na ja, das ist lange her." - Uns geht das an, immer noch.

Der Gelöstheit, die mich ergriffen hatte, nach diesem Glas Selbstgebrannten möchte ich es zuschreiben, dass ich nicht erstarrt stehen blieb oder davon lief in der Erwartung drohender Blicke und erhobener Fäuste. Einmal in Moskau, als Tourist, war ich verfolgt worden von einem Alten, eine ganze lange Straße lang. „Sieben Söhne“, hatte er immer wieder geschrien. „Sieben Söhne habt ihr mir umgebracht.“

Ich hatte mich schuldig gefühlt, obwohl ich erst sechs Jahre alt gewesen bin, als der Krieg zu Ende war.

Vor der blonden Frau verneigte ich mich, küsste ihr die Hand und wurde danach am Arm genommen und in den Garten geführt.

Zwischen zwei Hausgärten war der trennende Zaun entfernt worden. Unter den Bäumen hatte man Pfähle in die Erde gerammt, Platten und Bretter darauf genagelt und auf diese Weise lange Tafeln und Bänke geschaffen. Alles überdacht mit Hilfe von LKW-Planen, die an den Ästen der Bäume befestigt waren. Schutz gegen die hoch am Himmel stehende Sonne.

Im vorderen Teil des Gartens, unter einer gesonderten Plane, saß die Kapelle. Vier Mann, Harmonika, Geige, Trompete und Schlagzeug. Im hinteren Teil, am Bogen der U-förmigen Tafel, vor einem senkrecht gespannten Teppich, saß das Brautpaar. Dahinter qualmten provisorisch gemauerte Ziegelöfchen. Und alte Weiblein hantierten mit Rührlöffeln und Messern.

Wir wurden dem Brautpaar gegenüber gesetzt, gratulierten, schüttelten Hände und hatten schon Teller und Schüsseln, Schalen mit Brot und Flaschen und Gläser vor uns stehen. – Auf das Brautpaar!

Diesmal konnten wir mit Limonade nachspülen.

Beim dritten Glas protestierte Willi. Er zeigte dem Bräutigam seinen verbundenen Brustkorb und machte ihm klar, dass er krank sei. Mich dagegen hatte schon der Übermut gepackt, und wäre nicht das Gewitter gekommen, hätte ich mich wohl auf einen Vergleich in der Trinkfestigkeit mit einem Bruder des Bräutigams eingelassen.

Das Gewitter kam, wie in der Ukraine die Sommergewitter zu kommen pflegen. Plötzlich kommt Wind auf, treibt Staubwolken vor sich her, dann verdunkelt sich die Sonne, zwei Blitze zucken, Donner kracht, und aus einer Wolke schüttet Wasser herab, als sei ein Schleusenwehr geöffnet worden. Zehn Minuten später ist alles vorbei.

Die Hochzeitsgäste flüchteten in die Türen und unter die Dachvorsprünge der Häuser. In den lose gespannten Fahrzeugplanen bildeten sich riesige Wassersäcke, die bedrohlich über den Tischen hingen. Die Brüder des Bräutigams stiegen zwischen Teller und Schüsseln auf die Tische und drückten mit gestreckten Armen die Planen nach oben. Worauf das Wasser sich in mächtigen Schwallen auf die Tische und Bänke ergoss und das Geschirr zur Erde spülte. Die Frauen kreischten, die Männer lachten. Unbeeindruckt spielten die Musikanten der Kapelle zum Tanz. Die Vier saßen in ihrer Gartenecke, hatten die Beine vor dem sich unter ihren Stühlen sammelnden Wasser angehoben und spielten. Über ihnen hing schwer und dickbäuchig die Wasser gefüllte Plane.

Als der Regen vorüber war, setzte ein allgemeines Geschnatter ein. Flink wurden die Teller und Gläser eingesammelt, die Tische und Bänke abgewischt, und schon saß man wieder und sang.

„Los“, sagte Willi, „das ist die Gelegenheit. Wir ziehen ab, sonst füllen die uns hier voll bis zum Kragen.“

Die blonde Frau begleitete uns wieder bis zum Gartentor, und zwei der Zigeuner brachten uns zur Hauptstraße, wo sie uns ein Taxi einfingen.

Natürlich prahlten wir mit unserem Samogonerlebnis, obwohl wir auf dem Weg von der Ausfallstraße, wo uns der Taxifahrer ahnungsvoll abgesetzt hatte, bis zu den Baracken unseres Wohnlagers, am liebsten unsere Eingeweide mit ausgespuckt hätten.

Bei anderen lief die Begegnung mit dem Wässerchen weniger glimpflich ab. Einer irrte nachts, im Schlafanzug durch das Wohnlager, schlug Scheiben ein und beschmierte die Wände des eben fertig gestellten Schulgebäudes mit Blut. Ein Anderer musste ärztlich behandelt werden. Er hatte versucht, im Löwenkäfig des Tierparks zu übernachten.

Jeder, der an der Trasse gewesen war, konnte deshalb Gorbatschow verstehen, als er den Niedergang des Landes dadurch aufzuhalten versuchte, dass er diesem und anderen so tückischen Wässerchen den Kampf ansagte. Aber möglicherweise hat er ihn gerade dadurch noch beschleunigt.

     
     
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